Urnen- und Sarkophagplastik

Urnen- und Sarkophagplastik
Urnen- und Sarkophagplastik
 
Während die Grabmalerei den Verstorbenen nur selten und vermehrt erst in der Spätzeit darstellte, gab es in der Plastik eine alte, bis in das 9. und 8. Jahrhundert v. Chr. zurückreichende Tradition, ihm Gestalt zu geben. Am Anfang steht die Villanova-Urne als Behälter für die Asche des Verstorbenen. Deutlich ist das Bestreben, der bikonischen Aschenurne eine anthropomorphe, menschenähnliche Form zu geben, wenn etwa eine Urne aus dem Hinterland von Vulci in stilisierter Form Augen, Nase und Mund erhält und sich im Territorium von Chiusi die Sitte der Kanopen ausbildet, Gefäßurnen, bei denen die Einzelformen des menschlichen Körpers, besonders des Kopfes, des Oberkörpers und der Arme, plastisch ausgeformt sind. Wenn diese Kanopen, wie es häufig geschieht, im Kontext mit Thronen und Tischen erscheinen, auf denen sie aufgestellt sind, dann wird klar, dass es sich um ein ideelles Totenmahl des Verstorbenen handelt, vergleichbar dem zuvor geschilderten kleinen Kultraum in dem »Grab der fünf Sitze« in Cerveteri. Der frühen Zeitstellung gemäß, wird das Mahl, wie in den Epen Homers, noch sitzend beziehungsweise thronend eingenommen.
 
Im Verlauf des 6. Jahrhunderts v. Chr. setzt sich die Sitte durch, auf der Kline lagernd zu speisen und zu trinken. Eindrucksvollstes Beispiel für diese letztlich orientalischen, aber wohl über Griechenland vermittelten neuen Tischgewohnheiten sind die beiden »Ehepaarsarkophage« aus Cerveteri, die sich heute in der Villa Giulia und im Louvre befinden. Sie zeigen uns das verstorbene Ehepaar gemeinsam auf der Kline lagernd, die Unterkörper von einer dünnen Decke verhüllt, die Oberkörper aufgerichtet und dem Betrachter zugewandt. Der Mann hat schützend seine Hand um die Schulter der Frau gelegt. Diese, wie in Etrurien üblich den Tutulus als Kopfschutz sowie Schnabelschuhe tragend, ist etwas zierlicher gebildet als der Mann, und ihre Hände sind in starker Bewegung vorgestreckt. Vermutlich hielten sie einst Attribute, wie Blüten, ein Ei oder kleine Tongefäße mit Salben oder Parfüm. Die Gesichter der Eheleute wirken heiter und gelassen, was nicht zuletzt durch die hochgezogenen Mundwinkel des »archaischen Lächelns« bewirkt ist. Hierin und im Gegensatz zwischen gerundeten, großflächigen Gesichtspartien und den scharfkantig gebildeten Einzelformen, vor allem der mandelförmigen Augen, stimmen die Köpfe mit denen der Tempelplastik von Veji überein: Es sind die typischen Stilmerkmale der spätarchaischen, griechisch beeinflussten Kunst Etruriens. Keineswegs dürfen sie als Porträts verstanden werden, was allein schon deshalb ausgeschlossen ist, weil die Männer- und Frauenköpfe beider »Ehepaarsarkophage« aus derselben Matrize geformt und nachträglich mit der Hand überarbeitet sind.
 
Trotz ihrer Größe - das Exemplar der Villa Giulia ist 1,91 m lang - dienten die beiden »Ehepaarsarkophage« als Aschenbehälter, sind also eigentlich Urnen. Wirkliche Sarkophage mit den Verstorbenen als Deckelbekrönung kamen erst im Verlauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Mode. Eheleute, wie auf dem Bostoner Nenfro-Sarkophag aus Vulci mit der eindrucksvollen Wiedergabe des sich umarmenden Paares Arnth Tetnies und Ramtha Visnai, treten nunmehr in den Hintergrund gegenüber Einzelpersonen. Hauptzentrum dieser Gattung wird das südetruskische Tarquinia. Zwei wichtige Veränderungen lassen sich beobachten: Zum einen sind die Namen der Verstorbenen bekannt, da in den Sarkophagkasten eingeschrieben, und zum anderen lösen sich auch die Köpfe und Gesichter der Dargestellten aus der bisher gewahrten Anonymität, da sie individuelle Züge tragen. Dies gilt besonders dann, wenn es sich um auf Bestellung hergestellte Einzelstücke handelt wie den Sarkophag des Laris Pulenas, eines hohen Beamten und Priesters aus Tarquinia, dessen Ämter und Verdienste auf einer Buchrolle aufgeführt sind, die er geöffnet in Händen hält. Sein breiter Kopf mit den abstehenden Ohren und das etwas derbe, aber ausdrucksstarke Gesicht mit den eng beieinander liegenden Augen und der ungewöhnlich schmalen Oberlippe dürften am wirklichen Aussehen des Mannes orientiert sein.
 
Überhaupt erstaunt den modernen Betrachter, wie wenig Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt wird: Die Körper sind oft schlaff und füllig und die Gesichter mit allen Merkmalen des Alters gekennzeichnet. Ein Höhepunkt und zugleich Abschluss dieser Entwicklung, die in gewissem Sinne ein verbindendes Merkmal der hellenistischen Kunst auch in Griechenland und Rom darstellt, ist ein Urnendeckel aus dem nordetruskischen Volterra. In der Wiedergabe der lagernden Eheleute lebt das Motiv der »Ehepaarsarkophage« fort, doch die Heiterkeit und Alterslosigkeit der archaischen Welt ist einem fast schwermütigen Ernst gewichen, die Merkmale des Alters und der Vergänglichkeit sind schonungslos festgehalten. Die Urne, wohl im 1. Jahrhundert v. Chr. geschaffen, gehört in eine Zeit, in der die Etrusker ihre ethnische Identität soeben verloren und sie im expandierenden Römertum aufgegangen waren.
 
Prof. Dr. Friedhelm Prayon
 
 
Die Etrusker. Kunst und Geschichte, bearbeitet von Maja Sprenger. Aufnahmen von Max und Albert Hirmer. München 1977.
 
Die Etrusker, Texte von Mauro Cristofani u. a. Sonderausgabe Stuttgart u. a. 1995.
 Pallottino, Massimo: Etruskologie. Geschichte und Kultur der Etrusker. Aus dem Italienischen von Stephan Steingräber. Basel u. a. 1988.
 Prayon, Friedhelm: Die Etrusker. Geschichte, Religion, Kunst. München 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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